Die Christliche Pfadfinderschaft im Nationalsozialismus (1933-1945)

Mit dem Aufkeimen des Nationalsozialismus und der „Machtübernahme“ 1933 kam die Bündische Jugendbewegung in eine zunehmend schwierigere Lage und schließlich zum Erliegen. Die Bünde und Verbände waren von der „Gleichschaltung“, also der Überführung in nationalsozialistische Organisationen wie der Hitlerjugend (HJ) oder dem Bund Deutscher Mädel (BDM), oder Verboten bedroht. Das selbe galt auch für die Evangelische Jugend (EJ) mit ihren Pfadfinder*innen.

Zur Integration in nationalsozialistische Strukturen kam es bereits im folgenden Jahr: 1934 wurde die Arbeit mit Minderjähirgen verboten. Somit durften nur noch Erwachsene bzw. Kreuzpfadfinder*innen aktiv bleiben. In dieser Zeit gewannen Gottesdienste, die von Anhängern der Bekennenden Kirche gehalten wurden, auch für Jugendliche an Bedeutung. Diese Jugendgottesdienste stellten als politisches Bekenntnis ohne „aktiven“ Widerstand eine Herausforderung für die Hitlerjugend dar, besonder dort, wo diese zahlenmäßig unterlegen waren.

Kitzingen am Main, Bayern (Stahlstich um 1845)

Kitzingen am Main, Bayern (Stahlstich um 1845)

Ein Beispiel aus der Geschichte

In Kitzingen, wo es mehr Bündische Jugend als BDM- und HJ-Angehörige gab, wurde die Eingliederung der evangelischen Pfadfinder*innen 1934 in Rahmen eines Gottesdienstes vollzogen. Die NS-Verantwortlichen befürworteten dieses Vorgehen, um Eskalationen vorzubeugen. Die Predigt hielt der Kitzinger Pfarrer Herrmann Schlier, Angehöriger der Bekennenden Kirche. Mit wehenden Fahnen und Bannern zogen die Pfadfinder zur Kirche, rollten die Banner ein und gingen schweigend hinein. Sie waren in der Überzahl und die HJ und der BDM, die beide im Gottesdienst anwesend waren, ertrugen das Geschehen mit zusammengebissenen Zähnen. Im Anschluss an den Gottesdienst besprachen sich die Führer*innen und Führer im Pfadfinderheim, wo die Banner verborgen werden sollten.

Die Jugendarbeit der Evangelischen Kirche beschränkte sich fortan auf Bibelkreise, konnte dort jedoch einen letzten Freiraum gegen nationalsozialistische Einflüsse für sich behaupten. Das intensive Bibelstudium führte zur verstärkten Ausprägung einer christlichen Gesinnung und zur theologischen Schulung der übrig gebliebenen Pfadfinder*innen.

Damaliger „Reichspfadfinder“ (entspricht heute dem Bundesführer) und Stadtjugendpastor Friedrich Duensing war eiserner Verfechter der Selbstständigkeit der Christlichen Pfadfinderschaft und befürwortete eine Auflösung gegenüber einem Übertritt in die HJ. Er stellte Heinrich Karsch als „Reisesekretär“ ein, um im Kontakt mit den Stämmen zu treten und die Verantwortlichen für die Auseinandersetzung mit nationalsozialistischem Gedankengut zu rüsten. 1937 wurde die EJ endgültig verboten, sodass sich die Arbeit vollkommen in die Kirchengemeinden verschob. Die übrig gebliebenen Führer*innen der evangelischen Pfadfinderbewegung agierten aus dem Untergrund heraus und wurden von der Gestapo (Geheime Staatspolizei) überwacht.

Karsch wurde 1940 in den Krieg eingezogen. Die Assoziation mit der Wehrmacht schützte ihn vor Gestapo-Übergriffen Während der Verbotsjahre hielt er die Verbindung zu Pfadfinder*innen aufrecht. Er war für den Wiederaufbau der Jugendarbeit nach dem Krieg von wesentlicher Bedeutung und wurde 1947 zum ersten Bundesführer der Christlichen Pfadfinderschaft gewählt.

Neuanfang der christlichen Pfadfinderarbeit nach 1945 

Wie bereits erwähnt, was Heinrich Karsch eine Schlüsselfigur des Wiederaufbaus der Christlichen Pfadfinderschaft. Er hielt eine Verbindung zum Erbe der Vorkriegzeit aufrecht. Gleichzeitig wuchs eine Generation junger Menschen heran, die sich auch außerhalb der Grenzen der schützenden Kirchengemeinde entfalten wollte. Das Gedankengut der Jugendbewegung sowie die vorhandenen Bibelkenntnisse bildeten die Grundlage dazu,  sich in der neu gewonnen Freiheit der noch im Entstehen begriffenen Bundesrepublik auszuprobieren: Freiheit und Gleichheit vor Gesetz und Staat statt Widerstand gegen ein aufgezwungenen Unrechtsregime. Darüber hinaus waren besonders die „Mangeljahre“ bis 1949 eine Zeit des Improvisierens in allen Lebenslagen, welche die Selbstständigkeit der jungen Menschen prägte. Reformansätze der EJ aus der Vorkriegszeit wurden aufgegriffen, entwickelten sich jedoch im zeitgenössischen Kontext in neue Richtungen weiter. 

Die Bibelarbeit wurde bei den evangelischen Pfadfindern auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt – nun jedoch nicht mehr mit dem Ziel, sich als letztes Refugium gegen die nationalsozialistischen Repressalien behaupten zu dürfen, sondern einen sicheren Raum zu schaffen, in dem junge Menschen gemeinsam ihre eigenen Antworten zu Glaubensfragen suchen können.  Die ersten Nachkriegspfadfinder*innen waren bereits im Jugendlichenalter (ab 16 Jahren) und konnten sich somit inhaltlich anspruchsvollen Themen widmen. Das „Waldläuferische“, das unmittelbare Erleben von Natur auf Fahrt und Lager verband sich mit gründlicher Reflexion des Erlebten im Rahmen der Andachten und Bibelarbeiten. Lagergottesdienste nach kirchlichen Traditionen wurden durch ältere Pfadfinder*innen in Hinblick auf die Bedürfnisse der Jüngeren gestaltet. Die Anliegen der Jugendlichen fanden Raum in ihre selbstgestalteten Andachten und dialogisch gehaltenen Bibelarbeiten. Diese Ansätze waren von aufmerksamen Beobachten und einer experimentellen Herangehensweise geprägt. 

Durch die Beschäftigung mit dem Thema „Nachfolge“ entstand die Idee einer geschwisterlichen Lebensgemeinschaft Mitte bis Ende der 50er Jahre. In der Christlichen Pfadfinderschaft bildete sich der Wiblingwerder Kreis als Bruderschaft von Kreuzpfadfindern, die ihr Leben gemeinsam geistlich strukturieren wollten. In anderen christlichen Pfadfinderbünden gründeten sich ebenfalls betont christliche Zusammenschlüsse, die teilweise aus den Untergrundbewegungen während des nationalsozialistischen Verbots hervorgingen wie etwa die Schwesterngemeinschaft Communität Casteller Ring des BCP. Hier wurden regelmäßige Gebetszeiten, in denen alle Lebensthemen berücksichtigt wurden, sowie die Gemeinschaft betont, welche offen und ehrlich miteinander umgehen und sich gegenseitig seelsorgerlich zur Seite stehen. 

Gesellschaftliche Öffnung in den 50er und 60er Jahren 

In den 50er Jahren entstand eine verengte Lebens- und Gefühlswelt bei den Evangelischen Pfadfinder*innen. Die Forderung nach Selbstständigkeit und der Drang nach Selbstbehauptung, die als Reaktion auf den Nationalsozialismus entstanden waren, führten zu innerlichen Enge und einer Abnahme im Kontakt mit der Außenwelt. Gemeinsame Traditionen ermöglichten inneren Zusammenhalt, hatten jedoch auch eine selbstbewusste Abgrenzung nach außen zur Folge, sodass die Pfadfinder*innen in einem Spannungsverhältnis zwischen der Welt des Bundes und den alltäglichen Lebensbezügen standen.

Dies führte zu Kritik aus den eigenen Reihen: Der Dialog mit der Gesellschaft dürfe nicht gemieden werden. Die Pfadfinderbewegung dürfe keine elitären Züge annehmen. Eine Öffnung hin zur Gesellschaft wurde gefordert. 1957 fand zwecks einer ersten Beratung eine Konferenz in Josefstal statt, in der Psycholog*innen, Pädagog*innen und Theolog*innen gemeinsam über die Weiterentwicklung der evangelischen Pfadfinderarbeit diskutierten. Das Thema Koedukation kam hier erstmals auf. Ein wesentlicher Schritt der Öffnung zur Gesellschaft hin war die Bereitschaft zur soziologischen Untersuchung und wissenschaftlichen Aufarbeitung der Strukturen der Christlichen Pfadfinderschaft.

Dieser Prozess führte letzten Endes dazu, dass die Christliche Pfadfinderschaft eine Neuformulierung seiner Grundsätze in Angriff nahm. Diese wurden 1962 verabschiedet. Die wesentliche Neuerung war eine Verankerung von gesellschaftlicher und politischer Verantwortung in den Grundsätzen. Die Pfadfinderarbeit sollte dementsprechend nicht nur nach innen, sondern auch nach außen wirken und so auf die Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung vorbereiten. Ebenso wurde die Grundlage einer stärkeren geistliche Ausrichtung geschaffen. 

Grundsätze von Rieneck (1962):

In der Gemeinschaft der Kirche bekennen wir Jesus Christus, der durch die Schrift bezeugt und auch in Wort und Sakrament gegenwärtig ist.

Deshalb nehmen wir teil an Gottesdienst und Abendmahl, bemühen uns um vertieftes Verstehen der Bibel und der Aussagen des christlichen Glaubens und um das persönliche und gemeinsame Gebet. Dies alles geschieht in Ausrichtung auf die Ökumene.

Der Glaube an Jesus Christus befreit uns von den versklavenden Mächten dieser Welt zu einem Leben, das für den Anspruch Gottes offen ist.

Darum lehnen wir alle Formen ideologischer Bindung ab und wollen sachlich und nüchtern denken und handeln.

Der Anspruch Gottes bindet uns an den Nächsten und fordert unsere Antwort durch Mitarbeit in Kirche, Staat und Gesellschaft.

Das verpflichtet uns zur Übernahme von Diensten und zu persönlichem Einsatz im Leben unserer Kirchengemeinden. Wir bejahen die demokratische Ordnung in Staat und Gesellschaft und sind deshalb zur Mitgestaltung und Mitverantwortung darin bereit. Wir bemühen uns um das Verständnis der anderen Völker.

In der Gemeinschaft des Bundes üben und helfen wir uns, diese Aufgabe einzeln und miteinander wahrzunehmen und uns auf sie vorzubereiten. Einordnung, Selbstdisziplin und Maßhalten machen uns dazu bereit.

Dabei sind die Ordnungen und Formen christlichen Pfadfindertums für uns verbindlich.

Die Begegnung mit Jesus Christus gibt uns Freude an den Schöpfergaben Gottes.

Von daher kommen wir zur Entfaltung und Bewährung unseres Menschseins in Natur, Technik und Kultur und zur Bewahrung der Schöpfung.