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Ende 1939 oder Anfang 1940, so genau kann ich mich nicht erinnern, überlegten wir sechs uns, was wir eigentlich waren. Wir kannten uns nun schon eine ganze Weile und vertrauten einander immer mehr. Jeder tat auf seine Weise etwas gegen den Nationalsozialismus, doch bislang hatten wir keine gemeinsamen Aktionen durchgeführt, sondern nur darüber gesprochen, dass es mit Hitler nicht länger so weitergehen durfte. Klar waren wir „die andere Jugend“, die oppositionelle Jugend, aber mit einem Verweigern des Hitlergrußes oder der HJ-Zugehörigkeit war es schließlich nicht getan. Wenigstens waren wir dieser Meinung. Auch das erforderte in diesen Zeiten schon unglaublich viel Mut. Wir wollten zu dem frei sein, wir wollten frei wandern und singen können, wir wollten unsere Kleidung und unser Aussehen selbst bestimmen – alles Wünsche, die unter dem nationalsozialistischem Regime un denkbar waren. Und für die wollten wir kämpfen. Es war klar, dass wir uns nicht als illegale, wilde Gruppe der Bündischen Jugend verstanden, auch wenn wir aus ihr hervorgegangen waren. Wir brauchten eine eigene Identität, die die neuen politischen Machtverhältnisse widerspiegelte. „Wer macht den ersten Namensvorschlag von unsere neue Gruppe?“ Plötzlich ging alles wild alles durcheinander: „Wüstenmaus“, „Zugvögel“, „Bärenfett“, „Matterhorn“, „Edelweiß“. „Edelweiß?“, fragten nun alle. „Edelweiß ist eine Blume, die auf den höchsten Bergen wächst, sogar bei Schnee und Eis. Keiner kommt an sie heran und kann sie einfach abpflücken, außerdem steht sie unter Naturschutz. Ein Edelweiß ist frei, wunderbar frei, keine andere Blume ist so frei wie ein Edelweiß. Wo die blüht, da wird uns nichts passieren. Das wär doch was für uns.

Dieses verbotene Treffen von sechs Jugendlichen der bündischen Jugend war der Anfang der Widerstandsbewegung der Edelweißgruppen in Köln und Umgebung, die uns aus dem Lied „Edelweißpiraten“ bekannt sind. Ein Lied, das nicht nur über ihre vorbildlichen verbotenen Tätigkeiten im Untergrund und die damit verbundenen brutalen Strafen des Hitler-Regimes, sondern auch ihre Lust zu Leben, ihrem Wunsch nach Freiheit und natürlich ihrem äußeren Erkennungsmerkmal, dem Edelweiß, erzählt.

Der oben zitierte Text ist ein Auszug aus dem autobiographischem Roman „Edelweiß: Meine Jugend als Widerstandskämpferin“ Gertrud Koch, geb. Kühlem. Sie erzählt in diesem ausführlich von ihrer Jugend vor und während dem Zweiten Weltkrieg. Ihre Eltern, überzeugte Kommunisten, standen von Anfang an unter Beobachtung der Gestapo. Trotzdem scheuten sie sich nicht, immer wieder gegen die neuen Gesetze zu verstoßen, indem sie sich beispielsweise heimlich mit Widerständlern trafen, Kranke und Flüchtlinge aufnahmen, Anti-Hitler Propaganda verteilten und den Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sowie deren Kindern, als auch denen von KZlern, die nun auf sich allein gestellt waren, heimlich Essen zukommen ließen. Gertrud, die zu Kriegsanfang gerade mal 15 Jahre alt war, half ihren Eltern bei all diesen Aktionen so gut es ging. Gertruds Vater wurde aufgrund seines politischen Engagements mehrfach verhaftet und in das KZ Boergermoor gesteckt, wo übrigens das Lied „Wir sind die Moorsoldaten“ entstanden ist. Es dauerte nicht lange nach seiner Entlassung, bis er erneut verhaftet und verschleppt wurde. Schließlich erreichte Gertrud und ihre Mutter, die mittlerweile ihre Stellung verloren hatte, die Nachricht „Auf der Flucht erschossen.“ Nach einiger Zeit ergriff Gertrud selbst die Initiative: Unter dem Decknamen „Mucki“ gründete sie mit ihren Freunden eine geheime Widerstandsgruppe. Wie sie es zuvor mit den nun verbotenen Roten Jungpionieren zu tun pflegte, wanderte und sang sie mit ihren Freunden und dem noch tolerierten „Bund der Naturfreunde“. Doch gleichzeitig benutzten sie diese Zeit, um in Ruhe politische (jedoch im Gegensatz zu anderen Widerstandsgruppen gewaltlose) Aktionen vorzubereiten. Sie verteilen beispielsweise Flugblätter und schreiben Parolen an Züge und Hauswände – zunächst harmlos scheinende Aktionen, die jeden Einzelnen in Lebensgefahr brachten. Nicht umsonst heißt es im Lied „Sie glaubten fest daran, als sie zum Galgen gingen.“

Im Kölner Raum entstehen noch weitere Widerstandsgruppen aus der ehemaligen bündischen Jugend. Diese schlossen sich den „Edelweißpiraten“, wie sie als Beleidigung von der Gestapo genannt wurde, an und taten gemeinsame Sache. Die Situation wurde im Laufe der Zeit immer gefährlicher für die Edelweißgruppen: Die Gestapo und auch die HJ lauerten an jeder Ecke – und auch vor Spionen in den eigenen Reihen konnte man nicht sicher sein. Die Gruppe beschließt, sich ein letztes Mal mit allen aktiven und ehemaligen Mitgliedern in einem ländlichen Wirtshaus zu treffen. Ausgerechnet dort kommt es dann zur Konfrontation mit der Gestapo: Instrumente werden zerstört und ausnahmslos werden alle verhaftet und einem brutalem Verhör unterzogen.

Mucki“ trifft es besonders hart: Sie wird – nicht zum ersten Mal – in das sogenannte EL-DE-Haus in Köln gebracht. Was heute als Dokumentationszentrum der NS-Zeit in Köln dient, war damals die Zentrale der Kölner Gestapo und beherbergte einige der brustalen Methoden der Nazis. Als Gertrud dort ankommt, wird ihr der Arm gebrochen. Im Verhör wird sie dennoch nicht verschont. Mit Tritten und Schlägen versuchen die „Polizisten“ ihr Namen und andere Informationen über die „Staatsfeinde“ und deren Aktionen zu entlocken. Doch vergeblich – Gertrud verrät bei der Folter nichts. Also wird sie in ein Kloster in der Nähe von Köln gebracht, welches den Nazis als Gefängnis dient. Doch auch dort hat ihr Leiden kein Ende…

Nur mit viel Glück konnte „Mucki“ den Zweiten Weltkrieg überleben – doch unversehrt hat sie ihn keinesfalls überlebt. Sie ist eine der letzten heute noch lebenden „Edelweißpiraten“ und hat hat uns ihre Geschichte in Form eines Romans überlassen. Ein Roman, der es auf jeden Fall wert ist, gelesen zu werden.

Edelweiß: Meine Jugend als Widerstandskämpferin von Gertrud Koch
Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2006 ISBN: 978349962093