Jahreslosung

Vor einer Weile war ich bei einem Taufgottesdienst für nicht getaufte Konfirmanden und Konfirmandinnen. Dort wurde nicht die Formulierung des Tauf- und Missionsauftrag nach Mt. 28 „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“, sondern die zunächst befremdliche Formulierung im „Im Namen Gottes, Vater und Mutter, Jesu Christi, Freund und Bruder, und der Heiligen Geisteskraft, Wegbegleiterin und Fürsorgerin“, verwendet. Mal abgesehen von dem Widerspruch, den Heiligen Geist zunächst zu entpersonalisieren, um danach weibliche Attribute zuzuschreiben, störte ich mich daran, dass der Genderwahn nun anscheinend auch in den altkirchlichen Traditionen Wellen schlug.

Und doch, als ich vor einigen Monaten eine kleine Packung Pflaster mit der diesjährigen Jahreslosung „Gott will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ von einem guten Freund mit der Post geschickt bekam, fühlte ich mich durchaus berührt. Aber Gott als Mutter zu sehen erschien mir dennoch ein wenig fremd. Nicht, weil ich mir Gott tatsächlich als adam, hebräisch für Mann oder auch generalisierend Mensch, vorstelle und auch nicht, weil für mich Gott nicht über typisch weiblichen Attribute wie Fürsorglichkeit verfügen würde. Ich denke einfach, es liegt weniger an meinem Gottesbild selbst als an dem traditionelle Sprachgebrauch z.B. im „Vater Unser“, wo zumindest auf sprachlicher Ebene von einer männlichen Figur die Rede ist. An der Stelle ist es vielleicht interessant darauf hinzuweisen, dass im Hebräischen das Wort für „Geist“ weiblich ist und das der Eigenschaft der Barmherzigkeit Gottes genau so lautet wie das Wort für „Gebärmutter“. Beide Worte kommen vom Wortstamm für „warm“ – warm, geborgen, sicher bei seiner Mutter so wie bei Gott.

Ein Text wie diese Jahreslosung regt einen an, über Gott nachzudenken – über die menschlichen Schranken nachzudenken, die wir ihm, zum Beispiel durch Sprache, auferlegen. Die Jahreslosung lädt uns ein, unser Denken für Gottes Weite zu öffnen, die sich nicht in unseren menschlichen Bildern und Worten erschöpft, sondern viel größer ist, als was wir mit der menschlichen Sprache zum Ausdruck bringen können. Sie fordert uns auf, an den Kategorien des menschlichen Denkens, die Gott in jeder Hinsicht sprengt, loszulassen. Sie lässt uns erkennen, dass wir selbst Gott ein Unrecht antun, wenn wir ihn durch unser Denken klein machen.

Und doch denke ich, dass in der Jahreslosung noch viel mehr steckt, dass wir dieses alttestamentliche Bild von Gott als tröstenden Mutter nur verstehen können, wenn wir wissen, woher dieses Bild stammt.

Die diesjährige Jahreslosung stammt aus dem allerletzten der sechsundsechzig Kapitel des Prophetenbuches Jesaja. Dieses Buch ist wie die meisten biblischen Bücher eine Sammelschrift von mehreren Schreibern und reflektiert die Erfahrungen des Volkes Israel aus der Zeit des babylonischen Exils sowie danach. Der Kontext der Jahreslosung zeigt uns dies deutlich. Jesaja 66,10-14a:

Freut euch mit Jerusalem, und jauchzt über sie, alle, die ihr sie liebt! Frohlockt von Herzen mit ihr, alle, die ihr um sie trauert! Damit ihr trinkt und satt werdet an der Brust ihres Trosts, damit ihr schlürft und euch erquickt an ihrer prall gefüllten Mutterbrust.

Denn so spricht der HERR: Sieh, wie einen Strom leite ich den Frieden zu ihr und den Reichtum der Nationen wie einen flutenden Fluss, und ihr werdet trinken, auf der Hüfte werdet ihr getragen, und auf den Knien werdet ihr geschaukelt. Wie einen, den seine Mutter tröstet, so werde ich euch trösten, und getröstet werdet ihr in Jerusalem. Und ihr werdet es sehen, und euer Herz wird frohlocken, und eure Knochen werden erstarken wie junges Grün.

In einem Text wie diesem schwingt die tiefe Sehnsucht nach Gottes Nähe und Heil mit. Gefühle eines Volkes, dass sich immer wieder schuldig gemacht hat, durch die Abkehr von dem einen lebendigen Gott, durch Untreue auch zueinander, durch Unterdrückung der Armen, durch Bestechung des Rechtssystems und vieles mehr – und gleichzeitig ein Volk, in dessen Mitte immer wieder Stimmen nach Umkehr, nach Gerechtigkeit und Gleichheit erwachen, die diese Sehnsucht mit ihren Anklagen zum Ausdruck brachten. Gefühle eines Volkes, dessen Reich nach und nach erobert wurde und zusammengebrochen ist, bis auch die letzte Stadt fiel. Gefühle eines Volkes, dessen Identität durch die Zerstörung von Tempel und Heiligtum infrage gestellt wurde, und dieser Identität doch auch im Exil treu blieb, indem es sich auf die Geschichten seiner Vorfahren besann. Gefühle eines Volkes, das nach der Zerstörung Jerusalems sowie der Ermordung und Verschleppung seiner Oberhäupter mit dem Gefühl zu kämpfen hatte, von Gott verlassen worden zu sein.

Dieses Thema von Verlorensein und Hoffnungslosigkeit beschäftigt aber nicht nur die Propheten des Alten Testaments. Zwei Evangelien berichten, dass Jesus am Kreuz dieses Gefühl schmerzlich bewusst wurde, als er schrie „Eli, Eli, lama sabachthani“ (Vater, Vater, warum hast du mich verlassen?“). Durch die Kreuzigung stellt sich Jesus mitten in die Leidensgeschichte des Volkes Israel und der gesamten Menschheit und gibt uns eine einzigartige Antwort auf die Theodizee-Frage:

Gott leidet mit uns.

Die Worte, die Jesus wohl als letzte von sich gab, wie bei Markus und Matthäus überliefert, schrieb bereits zuvor schon ein Israelit der nachexilischen Zeit, in einem Lied, das wir heute als „Psalm 22“ kennen. Es ist ein Gefühl des Verlassenseins und der Ohnmacht, das Jesus menschliche Natur ganz in den Vordergrund rückt und ihn mit seinen jüdischen Vorfahren verbindet.

Jesaja 66,13 spricht aus diesen Erfahrungen heraus, aus einer Volksgeschichte, die von Heimatlosigkeit, Fremde und Verlorenheit zeugt. Und er spricht in diese Erfahrungen hinein: „Frohlockt von Herzen mit ihr,

alle, die ihr um sie trauert!“ Freut euch, die ihr trauert! Er lässt ein Licht im Dunkeln aufgehen, wie der Stern über dem Stall im Bethlehem, der in dunkelster Nacht den Weg weist. So wie Jesus von sich selbst sagt: „ICH BIN das Licht der Welt.“ Jesus, der kam, um die verlorenen Schäfchen Israels nach hause zu führen. Jesus offenbart sich als der Gott, der gekommen ist, um uns zu trösten, der mit uns leidet. Er bringt uns in Beziehung zu dem Gott, den schon Hiob inmitten all seinem Leid begann mit dem Satz „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ Gott zu loben.

Der mysteriöse Autor, der sich hinter dem literaturwissenschaftlichen Begriff „Tritojesaja“, dem chronologisch zuletzt geschriebenen Teil des Prophetenbuches verbirgt, spricht ebenso den Israeliten in Gottes Namen Trost zu. In diesem abschließenden Kapitel malt der Prophet eine Zukunftsvision der Stadt Jerusalem, die bis zur Tempelzerstörung die zentrale Stadt des jüdischen Glaubens darstellte. Er malt das verheißene Bild einer Zukunft, in der Gerechtigkeit vollstreckt wird; das Bild einer Stadt des Schaloms; eine Stadt, in der alle Völker friedlich beieinander leben und Gott mitten unter ihnen. Und er mal ein zweites Bild, direkt daneben, das Bild von Gott als einer Frau, die ihr Kind mit sich trägt und sie in ihren Armen schaukelt, um es zu beruhigen. Er fordert dazu auf, sich zu freuen – über Gottes gnädige Zuwendung und stützende Fürsorge, für seine überwältigende Liebe, ewige Geduld und immerwährende Nähe. Er fordert auf, sich über den einen Gott zu freuen, der uns in den schwersten Zeiten Trost und Kraft schenken will wie eine gute Mutter.

Gebet: 

Ich erinnere mich daran, wie ich Fahrradfahren gelernt habe, auf dem Parkplatz gegenüber von unserem alten Haus. Ich weiß noch, wie ich hingefallen bin und mir mein Knie blutig geschlagen habe und weinend zuhause geklingelt habe. Mein Vater machte auf und besorgte mir ein Pflaster. Er nahm den Kummer von mir.

Ich bitte dich: Sei wie ein Vater zu mir, der meine Wunden behutsam umsorgt und mir die Kraft schenkt, schwierige Aufgaben zu meistern, auch wenn sie mir nicht direkt gelingen wollen.

Ich erinnere mich daran, wie ich davon erfuhr, dass eine meiner besten Freundinnen ums Leben gekommen ist. Ich weiß noch, dass ich meiner Mutter davon erzählte und sie mich wortlos in den Arm nahm und mit mir gemeinsam geweint hat. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Ich bitte dich: Sei wie eine Mutter zu mir, die mir in den schwersten Zeiten beisteht, die richtigen Worte findet und doch auch weiß, wann die stillschweigende Anwesenheit das beste Heilmittel ist. Lass mich Trost in dir und deinem Versprechen finden, dass du eines Tages jede Träne abwischst und du mir beistehst, bis ans Ende aller Tage.

Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich morgens nichtsahnend auf dem Weg zu meiner ersten Vorlesung von den Anschlägen in Paris erfuhr und abends am Computer recherchierte. Mir kamen Tränen in die Augen, als ich von all den unschuldigen Toten las. Manchmal bin ich verzweifelt angesichts all dem Leid und der Ungerechtigkeit in dieser Welt.

Ich bitte dich: Lasse dein Licht scheinen auf all diejenigen, die Kummer haben. Sei bei denen, die sich verzweifelt, verlassen oder heimatlos fühlen, die alles verloren haben, die Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt wurden. Spende deinen Trost an diejenigen, die frohlocken sollten statt zu trauern.