Dieser Impuls stammt aus der Andacht, die bei den Späheraufnahmen auf dem Pfingstlager 2019 mit dem Motto „Europa“ gehalten wurde.
Wir wollen in Verbundenheit zu Heimat und Kultur beides zu erhalten trachten, aller Volksverhetzung wehren, Verantwortung für die Gesellschaft mittragen und deshalb Volk und Staat dienen.
Das Späherziel
Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich mich auf dem Bundeslager 2012, damals selbst noch Knappe, den damaligen Späherbeauftragten fragte, was hiermit gemeint sein sollte. Als chronische Weltenbummlerin war der Begriff „Heimat“ mir fremd und „Volk und Staat dienen“ war geradezu verdächtig braun eingefärbt. Die Antwort war einfach: „Wählen gehen“. Doch mit der kurzen Antwort war ich dauerhaft nicht befriedigt. Immerhin stand dort „Volk und Staat dienen“. Was konnte damit also noch gemeint sein? Diese Frage hat mich in der Zeit seitdem immer wieder begleitet. Auch kürzlich waren wieder Wahlen – diesmal auf europäischer Ebene. Nun hat sich mir zum ersten Mal die Frage gestellt, was es im heutigen globalisierten Kontext bedeutet, Späher zu sein. Sind die Begriff „Volk und Staat“ heute nicht vollkommen antiquiert? Denken wir mittlerweile nicht in viel umfassenderen Kategorien?
Ich habe keine richtigen Antworten auf alle Fragen, die sich mir aufgetan haben, aber ich möchte euch doch heute Abend ein paar Gedanken als Impulse mitgeben.
In den letzten Monaten habe ich mich sehr intensiv mit der Geschichte der CPD beschäftigt. Ich glaube besonders der Wiederaufbau der CPD nach der deutschen Kriegsniederlage im Jahr 1945 kann uns neue Perspektiven öffnen.
Angehörige der bündischen Jugendszene und der Pfadfinderverbände fanden damals zusammen, um auch in der evangelischen Jugend einen Neuanfang zu wagen. Mitglieder der Christlichen Pfadfinderschaft versuchten wieder Kontakt zueinander aufzunehmen. Viele frühere Führungspersönlichkeiten und Mitglieder waren zu diesem Zeitpunkt gefallen, vermisst oder heimatlos. Durch das über 10 Jahre lang geltende Verbote der Jugendgruppen während dem Nationalsozialismus waren die jüngsten der übrigen Mitglieder bereits um die 30 Jahre alt. Weitere Schwierigkeiten waren der Mangel an Geld, Verpflegung, Material und Transport, sowie die Herausforderung, dass auch die Öffentlichkeit und Kirchen einer Wiederbelebung des Pfadfindertums nicht überall wohlgesonnen waren. Auch die Christliche Pfadfinderschaft besann sich in dieser Zeit auf ihre historischen Wurzeln, sah seine gegenwärtige Aufgabe jedoch darin, zum Wiederaufbau eines deutschen Staates mit demokratisch-freiheitlicher Grundordnung beizutragen, in dem die pfadfinderische Arbeit auf die demokratische Erziehung von verantwortungsvollen Bürgern zielte. Ein wichtiges Zeugnis dieser Gesinnung ist das an den Neudietendorfer Grundsätzen orientierte Späherzielt, welches bereits 1946 formuliert und vom Bundesthing zwei Jahre später verabschiedet wurde. Darin hieß es ursprünglich:
Wir wollen in Liebe zu Heimat und Volkstum beides zu erhalten trachten, aller Volksverhetzung wehren und Verantwortung für Volk und Staat an unserem Teil tragen.
Das Späherziel im ursprünglichen Wortlaut
Ich hatte die Möglichkeit, Günther Brakelmann, der in den 50er Jahren Landesmarkführer der CP-Landesmark West und maßgeblich an der Formulierung der Grundsätze von 1962 beteiligt war, kennenzulernen. Er ist selbst kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in die CPD eingetreten und hat mir diesen Punkt erklärt, dem ich selbst ja mit viel Skepsis begegnet bin: Er sagte mir, dass der formulierte Gedanke keineswegs nationalistisch gemeint war, sondern eher im Sinne eines Verfassungspatriotismus zu verstehen ist. Das Späherziel wurde zu einem Zeitpunkt formuliert, in der nur von den alliierten Mächten besetzte Zonen existierten. „Deutschland“ gab es nicht.
Im Späherziel wurde daher eine Zukunftsvision formuliert, ein Bekenntnis zu einem Neuanfang, in dem Bürger den Staat eigenverantwortlich mitgestalten. Die Formulierung des Späherziels war daher gerade ein Bekenntnis zu einem demokratischen deutschen Staat und somit eine ganz klare Abgrenzung zum staatstragenden expansionistischen Nationalsozialismus und kann nur als direkte Folge der jüngsten deutschen Vergangenheit bewertet werden. Die Formulierung des Späherziels ging einher mit einer Verurteilung der NS-Ideologie sowie dem Eingeständnis einer persönlichen Mitschuld, da viele CPler ihrer besonderen Verantwortung als Christen im sog. Dritten Reich nicht nachgekommen seien. Nun sahen sich die Pioniere des Wiederaufbaus eines neuen Deutschlands und einer neuen CPD in der Pflicht, ein echtes Christentum in ihrer Lebensführung und Haltung zu bekennen.
Auch bemerkenswert ist die Tatsache, dass dieser Punkt im Späherziel direkt anschließt an folgende Formulierung:
Wir wollen über alles Trennend hinweg den wahren Wert des Menschen erkennen und andere Völker und ihre Jugend verstehen und achten lernen.
Das SPäherziel
Ganz offensichtlich wird die Bejahung von Verantwortung in den entstehenden deutschen Nationalstaaten daher nicht als Widerspruch zu Weltoffenheit und Pluralität gewertet, sondern es besteht die Ambition, durch die Jugendarbeit zu einer Wertschätzung menschlicher Diversität im internationalen Kontext beizutragen. Verantwortung für die Gemeinschaft und den Staat zu übernehmen, in der wir leben, und eine Verbundenheit, die nationalstaatliche Grenzen überschreitet, gehen daher Hand in Hand in der ursprünglichen Konzeption des Spähers. In diesem Sinne müssen wir auch heute nach wie vor handeln, selbst dann, wenn wir uns mit den Begrifflichkeiten, die in der Formulierung von 1948 verwendet wurden, eben nicht mehr identifizieren.
Ich würde euch gerne anschließend noch eine Beschreibung des Spähers aus den frühen 1950er Jahren vorlesen:
Worin unterscheidet sich nun Knappe von Späher? Ich würde meinen zuerst einmal darin, daß beim Knappe vor allem der Wille angesprochen und gefestigt wird, und er in jeder Hinsicht als Pfadfinder Lernender, Aufnehmender und Entdecker ist. Dem entspricht ja auch der Name Knappe. Beim Späher würde ich das Schwergewicht beim Spähen sehen, d.h., daß er anfängt die Dinge zu untersuchen, dahinter zu schauen, die Zusammenhänge zu sehen und darum auch über die Gemeinschaft der Sippe und des Stammes schon stärker hinausschaut. Zunächst beginnt es mit einer stärkeren Erkenntnis bzw. Frage unserer Formen und Ordnungen im Blick auf ihre Echtheit und ihre Bedeutung für sie jetzt. Dazu gehört dann auch die Frage nach unserem Zusammenhang mit der Familie, Heimat, Volk und Kirche. Auch unsere geschichtliche Beziehung ist wichtig.
veröffentlicht im Jahr 1952
Der Späher zeichnet sich also dadurch aus, dass er sich seine Umwelt durch kritische Reflexion aneignet. Es geht nicht mehr darum, reines Wissen oder Fertigkeiten zu erlernen, sondern sich mit eigenen Lebenserfahrungen und –umständen auseinanderzusetzen, sie in den Kontext größerer Zusammenhänge zu stellen und dadurch eine innere Reife zu gewinnen. Damit wird der Späher zu einem Vorbild für Jüngere und kann diese auf ihren Lebenswegen begleiten.
Die Bibel verwendet dafür den Begriff „Weisheit“. Ein Zitat aus dem apokryphen Lehrbuch Jesus Sirach bringt es auf den Punkt:
Wohl dem, der über die Weisheit nachsinnt und sie aufnimmt in sein ganzes Denken, der ihre Wege von Herzen betrachtet und ihren Geheimnissen immer weiter nachforscht, ihr wie ein Späher nachschleicht und auf ihren Wegen auf sie wartet und späht zu ihrem Fenster hinein und horcht an ihrer Tür, sucht Herberge nahe bei ihrem Hause und schlägt seine Pflöcke bei ihren Mauern ein und richtet an ihrer Wand sein Zelt auf, sodass er eine gute Herberge hat. Der bringt auch seine Kinder unter ihr Dach und bleibt unter ihren Zweigen; da wird er vor Hitze beschirmt und wird in ihrem Glanz wohnen.
Jesus Sirach 14, 20-26 (freie Übersetzung)
Heutzutage ist es genauso dringend notwendig ist wie 1945, sich von nationalen Grenzen nicht einengen zu lassen. Im Zeitalter fortschreitender Globalisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche ist es unerlässlich, die weltweiten Zusammenhänge und die Vielschichtigkeit von Problemen und deren Ursachen zu erkennen, um angemessene Lösungen zu finden. Im Kontext Europa heißt das konkret, dass europäische Probleme auch europäische Lösungen erfordern und wir keinen Kontinent der „Vaterländer“ brauchen, in dem jeder Nationalstaat seine eigenen Interessen auf Kosten der anderen durchzusetzen versucht.
Als Pfadfinder und Pfadfinderinnen sind wir verbunden mit der Jugend weltweit. Als Christen und Christinnen müssen wir Partei ergreifen für diejenigen, die gesellschaftlich benachteiligt werden, sei es vor unserer Haustür, in Rumänien, Botswana, Nepal oder Venezuela. Und als Späher sind wir dazu berufen, mutige Visionen und Träume für die Zukunft zu entwickeln, und selbst dort Hand anlegen, wo wir unseren Beitrag dazu leisten können.
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