Der Begriff „reifen“ kommt in unserem Späherziel vor. Ich hatte mir selbst wenig Gedanken darüber gemacht, was er bedeuten könnte, als ich ihn das erste Mal las – doch merkte bei einigen Spähergesprächen, das kaum jemand damit wirklich etwas anfangen konnte. Hatte ich den Begriff vielleicht selbst einfach zu leichtfertig zur Seite geschoben?

04-april

Vor einer Weile entdeckte ich durch Zufall ein kleines Buch mit dem Titel „Ich wachse und reife… und werde verwandelt“ von Ulrich Schaffer in einer winzigen Bibliothek mit gebrauchten Büchern in Estland. Ohne Versuch hier juristisch zu definieren oder historische Hintergründe anzusprechen, die den Wortlaut begründen, habe ich hier ein paar Zitate aus dem Buch als inhaltliche Impulse zum Späherziel gesammelt: 

Wenn wir uns mitnehmen lassen vom Leben, so werden wir uns auch immer wieder verwandeln. Meist geht das nicht ohne Schmerzen, weil auch Kräfte in uns gibt, die Angst haben vor dem Reifen. Es geht darum nicht ohne Einsatz, nicht ohne die klare Entscheidung, wachsen und reifen zu wollen. 

Zu wachsen heißt, unterwegs zu sein. Mich nicht mehr in der Sicherheit alter Vorstellungen zu wiederholen. Aufmerksam zu achten auf die Entwicklung des Lebens und die Dinge loslassen, die nicht zu mir gehören und die mich unerfüllt lassen. 

Wenn ich wachse, mache ich mich verletzbar wie eine junge Pflanze, die kämpfen muss gegen Wind, Regen, Hitze, Frost. So muss ich lernen, mich durchzusetzen. 

Es gibt kein Wachstum ohne Enttäuschung: Ich werde andere enttäuschen und ich werde selbst enttäuscht. 

Reifen und wachsen heißt fähig werden, mit dem Rhythmus zwischen Glück und Unglück umzugehen. Reifen heißt, die immer wiederkehrende Bewegung zwischen leicht und schwer, zwischen oben und unten, zwischen vor und zurück zu ertragen. 

Reifen heißt, sich selbst das zuzumuten, was ich schaffen kann, meine ganze Energie einzusetzen, es zu erreichen. Nicht mehr und nicht weniger. 

Ich wachse und reife an der Stille. An dieser erfüllten inneren Stille, in der ich es mir nicht mehr erlaube, etwas mit der Hektik meines Lebens zu verdecken. Da geht mir auf, wer ich bin, woher ich komme und wohin ich gehe, wer ich sein kann, und wer ich nicht mehr sein will. In der Stille fällt die Künstlichkeit ab, ich werde wirklicher, ich werde der, der ich bin. Vielleicht fürchten wir die Stille, weil wir uns in ihr schwerer verstecken können und weil sie unsere Unzulänglichkeit sichtbar macht. Gerade da aber ist der Knotenpunkt des Wachstums und der Durchbruch zu einem neuen Selbstverständnis. 

Ich wachse und reife in meinem Glauben. Ich habe die Kinderschuhe zurückgelassen, die Vorsichtigkeit, mit der ich meinte, Gott gütig stimmen zu müssen. Ich halte mich nicht mehr an starre Regeln, die andere aufgestellt haben. Ich glaube nicht mehr aus Angst. Ich gestalte meinen Glauben so, wie er mir entspricht, nicht so, wie anderen ihn haben wollen. Ich verlasse den ganzen Bereich des Müssens und betrete die Welt des Könnens und Wählens. Gott ist nicht mehr die Donnerstimme, in der ich mich nur klein und kauernd geborgen fühlte. Ich lebe von der Einladung dieser bunten Wirklichkeit Gottes. 

Ich glaube, indem ich lebe, mein Leben selbst ist die Form meines Glaubens. Nicht mehr in Worten, Dogmen und Regeln glaube ich, sondern im Handeln, Hören und Sprechen. Mein Glaube ist auf mich zugeschnitten, er umschließt mich wie Kleidung, die ich gerne trage. An guten Tagen ist mein Glaube gleichbedeutend mit meinem Atmen. Ausatmend vertraue ich und wende mich dem zu, was meiner Zuwendung bedarf. Einatmend höre ich den Zuspruch des Lebens und niemand wird es gelingen, meinen Glauben von meinem Leben zu trennen, auch nicht dem kleinkarierten Gottesbild in mir. 

Ich wachse und reife, indem ich das Verlorene auch wirklich loslasse. Nur leere Hände sind zu füllen. Ich will den Ballast meiner Vergangenheit ablegen und mich nicht mehr von ihm beherrschen lassen. Ich werde meine Vergangenheit nicht verneinen, denn sie gehört zu mir. aber ich werde verhindern, dass sie immer wieder meine Zukunft bestimmt. Mein Augenmerk ist auf das gerichtet, was noch möglich ist. 

Ich wachse in der Liebe zu meinem ganz eigenen Weg, zu meinen Begrenzungen. Immer weniger schaue ich auf das, was andere haben und können. Ich reife an meiner Unzulänglichkeit. Ich mache Fehler. Ich stehe immer wieder vor den Handlungen meiner Unreife. Sie dann zuzugeben, sie als Ausdruck meines Wesens zu verstehen, gibt mir die Chance, über sie hinauszugelangen und aus ihnenn zu lernen. 

Ich wachse und reife an der Unlösbarkeit der Probleme in meiner Welt. Ich begreife tiefer und tiefer, dass nichts nur schwarz und weiß ist und dass es keine einfachen Antworten gibt. Ich wachse und reife gerade an der Härte der Probleme. 

Reifen und wachsen heißt auch, mit offenen Augen auf den Tod zuzugehen. Wir sind nur so reif, wie wir bereit sind, unsere eigene Sterblichkeit anzunehmen. Ich verweigere mir darum das vordergründige Flüchten in die verlockende Oberflächlichkeit und das Ausblenden des Schmerzhaften. Der Tod macht uns weise für das Leben. 

Ich wachse an deiner Andersartigkeit. An dem Erschrecken, wenn ich dich plötzlich nicht mehr erkenne und darum mich selbst auch neu sehen muss. Ich werde wachsen oder Wachstum verweigern, indem ich mich nicht herausfordern lasse, wenn du plötzlich maskenlos vor mir stehst und ich meine Bilder von dir einsammle wie Strandgut, all meine gescheiterten Versuche, dich zu beschreiben und festzulegen. Wenn ich wachsen will, muss ich mich für dich entscheiden, so wie du bist, nicht wie ich dich haben will. 

Unsere Reife gibt uns Lebensraum, in dem wir einander beschenken mit unserer Einmaligkeit. Ich wachse nicht nur durch Not und Schmerzen, sondern auch durch unser gemeinsames, bewusst erlebtes Glück. Wir feiern das Licht und den Wind, wir freuen uns an unseren Körpern, wir sind ausgelassen und grenzenlos. Wir erleben die Dichte des Lebens und blühen auf in dem geschützten Raum, den es so selten in der Welt gibt.

Wenn wir bewusst teilen und unsere Erlebnisse mit unserem Wesen füllen, wachsen wir einzeln und zueinander hin. In dem gemeinsam erlebten Sonnenuntergang, in der Musik, die wir miteinander hören, auf dem Teppich im dunklen Wohnzimmer, in dem endlich erfüllten Wunsch, in der neuen Klarheit werden wir reich und weit. Eine Landschaft, ein Buch, ein Lied, ein Gedanke, eine Erinnerung, ein Mensch, das sind Werte, die uns lange begleiten und uns verwandeln. 

08-august

Nun habe ich noch ein paar Fragen formuliert, die dir vielleicht dabei helfen können, das Thema zu reflektieren:

Ist Reifen eine Entscheidung des Individuums? Muss ich mich bewusst von dem Weg des geringsten Widerstandes entfernen, um zu wachsen? Gehört es zum Reifen dazu, sich bewusst selbst Ziele zu setzen? 

Hast du Angst vor dem Reifen? Wenn ja, was befürchtest du? Inwiefern machst du dich verletzbar? Hast du Angst davor, verletzt und enttäuscht zu werden ? Befürchtest du in deinem Wachstum auch andere zu verletzen und zu enttäuschen?

Was musst du loslassen, um zu reifen? Trägst du auch „Ballast“ mit dir herum, der deine Entwicklung aufhält? Gibt es etwas in deiner Vergangenheit, das dich einfach nicht loslässt und dein Leben prägt? Wie stehst du der Zukunft gegenüber? 

Nimmst du dir Zeit, um alleine zu sein und dir deine Selbst ganz bewusst zu werden? Was ist das für eine Erfahrung für dich? Ist Reifen für dich auch eine Form von Harmonie mit sich selbst, das Annehmen von Schwächen?

Wie hat sich dein Glauben im Wandel der Zeit verändert? Gibst du im Glauben gereift? Was macht einen „reifen Glauben“ aus? 

Welchen besonderen Herausforderungen bist du im Leben begegnet, an denen du gewachsen bist? Bei welchen Fragen ringst du noch um Lösungen? Wo stößt du an deine persönlichen Grenzen und wie schießt du mit ihnen Frieden?

Wie bewusst lebst du? Lebst du ihm Bewusstsein deiner eigenen Endlichkeit und Unzulänglichkeit? Wie gehst du mit schmerzhaften Erlebnissen um? 

Wächst du an der Konfrontation mit deinen Mitmenschen? Definierst du dich selbst auch in Abgrenzung von anderen?  Wie gehst du damit um, wenn du feststellst, dass Menschen nicht so sind, wie du sie bisher wahrgenommen hast? Was kannst du einem anderen Menschen verzeihen?

Was schenken dir Beziehungen und was schätzt du daran, mit anderen Menschen Zeit zu verbringen? Gibt die Harmonie mit deinen Mitmenschen auch eine Möglichkeit zu reifen?